Die Arabische Revolution – Triumph der sozialen Netzwerke?

 

Keynote: Sami Ben Gharbia (Advocacy Director, Global Voices / Mitbegründer, nawaat.org, Tunis)

 

Host: Golnaz Esfandiari (Senior Correspondent, Radio Free Europe, Washington)

 

Panel: Sami Ben Gharbia (Advocacy Director, Global Voices / Mitbegründer, nawaat.org, Tunis); Sihem Bensedrine (Chefredakteurin, Radio Kalima, Tunis), Said Essoulami (Geschäftsführer, Centre for Media Freedom in the Middle East and North Africa, Casablanca), Dr. Asiem El Difraoui (Researcher, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin), Xan Smiley (Redakteur Mittlerer Osten und Afrika, The Economist, London)

 

Die erste Panel-Diskussion des Tages wurde mit einer Keynote von Sami Ben Gharbia eingeleitet, in der er die Rolle sozialer Medien in der tunesischen Revolution erklärte. Als einer der einflussreichsten tunesischen Aktivisten erläuterte er, dass soziale Medien für seine eigenen und die Arbeit seiner Kollegen schon seit über 10 Jahren sehr wichtig seien; das begann mit der Verbreitung von Blogs in den späten 1990er Jahren. Seitdem verfolgt die tunesische Regierung einen strikten Kurs in Sachen Internetzensur und hat bis dato 200 Blogs und seit Ende 2010 auch sämtliche Video-Plattformen, Twitter und die Webseiten oppositioneller Parteien und zivilgesellschaftlicher NGOs blockiert. In diesem Sinne unterscheidet sich das tunesische vom chinesischen Modell; dort werden nach der Blockierung verschiedener Webseiten zumindest Alternativen zur Verfügung gestellt. Da es in Tunesien keine Alternative zu den obengenannten gesperrten Platformen gab, erkannte die Bevölkerung Facebook als Ausweg.

Die Kernfrage besteht darin, warum Facebook nicht gesperrt wurde. Im Jahre 2008 veranlasste die tunesische Regierung nach Aufständen in der Bergbaustadt Redeyef die Sperrung von Facebook. Dieser Vorfall führte zu massiven Unruhen, sowohl in der Bevölkerung, als auch in Regierungskreisen. So baute sich Druck in Sachen Facebook auf; schon bald gipfelten diese Ereignisse darin, dass ungefähr 20 bis 30 Prozent der tunesischen Bevölkerung Mitglied von Facebook wurden. „Präsident Ben Ali befürchtete, dass die Sperrung von Facebook zu Straßenprotesten führen würde. Wir haben gesehen, was in Ägypten passiert ist, als Hosni Mubarak die Sperrung von Mobiltelefonen, dem Internet und Satellitenübertragungen von Aljazeera anordnete – die Menschen gingen auf die Straße, um so Informationen zu erhalten", so Ben Gharbia.

„Facebook eignete sich sehr gut dafür, Video-Inhalte zu verbreiten und Menschen zu organisieren, aber es war für internationale Journalisten von begrenztem Nutzen“, erklärte er. „Es ist nicht leicht zugänglich, wenn man kein Arabisch spricht, außerdem sind die Informationen nicht verifiziert und es funktioniert nicht als Archiv.“ Außerhalb Tunesiens gab es trotzdem Menschen, die übersetzten, überprüften und Informationen editierten, bevor sie an Mainstream-Medien wie Aljazeera weitergereicht wurden.

Tunileaks (die tunesische Version von Wikileaks) war ein weiterer Schritt auf dem Weg, Teile des Establishments davon zu überzeugen, dass Reformen des Ben Ali Regimes notwendig waren. Ein weiterer wichtiger Schritt war der „Anonymous“-Angriff auf die tunesische Infrastruktur. „Davor wurde die tunesische Revolution von westlichen Medien kaum beachtet (mit Ausnahme des englischsprachigen Aljazeera und einigen französischen Zeitungen). Der Angriff durch „Anonymous“ wurde jedoch in hunderten internationalen Artikeln thematisiert und brachte somit die Revolution in die westliche Öffentlichkeit. Diese drei Schnittstellen führten Informationen auf eine Art zusammen, welche die wartenden Menschen davon überzeugte, dass eine Revolution tatsächlich bevorstand.“

Diese neue, dem Internet mächtige Aktivistengeneration, die sich schon seit über 10 Jahren an der Zensur vorbeihangelte, wusste soziale Medien für ihre Zwecke zu nutzen. „Es liegt in der Natur des Web 2.0, dass man zwar Webseiten sperren kann – nicht aber Informationen.“

Said Essoulami erklärte aus historischer Perspektive, dass Aktivisten und Revolutionäre lediglich die neuesten Medien in ihre Aktivitäten integrierten. Dabei schloss er sich der Meinung an, dass sich die Revolution auch ohne soziale Medien vollzogen hätte. Trotzdem herrschte allgemeines Einverständnis, dass soziale Medien Menschen, die diskriminiert und/oder aus den Entscheidungsprozessen in ihren Autokratien ausgeschlossen werden, ein Forum bieten.

Sihem Bensedrine erinnerte die Teilnehmer, dass soziale Medien auch einen Solidaritätssinn jenseits geographischer Grenzen erschufen und zur Verbreitung von bürgereigenen Informationen führten, auf welche die Mainstream-Medien zurückgreifen konnten, wenn keine Korrespondenten verfügbar waren.

Die negativen Aspekte sozialer Medien wurden ebenfalls thematisiert, einschließlich ihres mangelnden Professionalismus und der Infiltration des Internets durch Regierungskräfte und der Geheimpolizei. Kurz vor dem 10. Geburtstag von Aljazeera wurde ebenfalls dessen massiver Einfluss auf die arabische Medienlandschaft und die der gesamten Welt diskutiert.

In der offenen Panel-Diskussion erwähnte Khaled Hroub, dass „Historiker die arabische Gesellschaft in prä- und post-Aljazeera einteilen werden, ungeachtet ihrer eigenen Absichten.“ Die verborgenen Absichten von Aljazeera wurden ebenfalls kritisiert, vor allem im Zusammenhang mit der mangelnden Berichterstattung über die Aufstände in Bahrain und Saudi Arabien.

In Zukunft müssen vielfältige Herausforderungen angegangen werden, wie zum Beispiel die wachsende Internetzensur und die Infiltration des Internets durch die Geheimpolizei und andere Kräfte, die dessen Missbrauch beabsichtigen. Es besteht auch die Möglichkeit des wachsenden Misstrauens gegenüber traditionellen Medien, da viele, vormals der Regierung gegenüber loyale Akteure in ihren Positionen verblieben sind.

Xan Smiley argumentierte, dass trotz der Existenz und des Gebrauchs neuer Medien die Revolution einem traditionellen Weg folgen müsse, um langfristig Erfolg verbuchen zu können. „Der Geist der Demokratie wird nicht zu unterdrücken sein. Trotzdem liegt noch ein langer Weg vor uns. Wir müssen die Revolution, die in der Luft und in den Medien liegt, in langweilige Institutionen wie ein Parlament verwandeln, in eine de-revolutionäre Versammlung.”

Dr. Asiem El Difraoui beleuchtete, wie soziale Medien den schwierigen Übergangsprozess, den arabische Länder nun zu bestreiten haben, unterstützen können. „Als Europäer sollten wir uns diesen über lange Zeit vernachlässigten Teilen der arabischen Gesellschaft zuwenden, d.h. den Millionen von Menschen, die fernab der Hauptstäte leben. Wir sollten sie im Hinblick auf unsere eigenen Demokratieerfahrungen beraten und sie über diesen steinigen Weg begleiten. Das Web 2.0 erlaubt es uns, dies auch in die Tat umzusetzen.”
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