Präsident der EZB, Deutschland

 

Für eine europäische Öffentlichkeit



Sehr geehrter Herr Minister Schäuble,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jakobs,
sehr geehrter Herr van Dülmen,
sehr geehrter Herr Achleitner,
sehr geehrter Herr di Montezemolo,
verehrte Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke dem Beirat des M100 Sanssouci Colloquiums von ganzem Herzen für diese Auszeichnung.
Die Anerkennung meines Beitrags zum europäischen Projekt ist eine Ehre, und es erfüllt mich mit Stolz, dass ich mich einreihen darf in den Kreis illustrer Preisträger. Ich setze mich nicht nur von Berufs wegen für Europa ein – Europa ist mir auch persönlich ein großes Anliegen. Und in diesen schwierigen Zeiten – in denen wir leider nur selten sans souci sind – ist es wichtiger denn je, ein starkes, vereintes und stabiles Europa zu schaffen.

Ich freue mich außerordentlich, dass Herr Minister Schäuble heute Abend hier anwesend ist, und möchte ihm herzlich für die sehr bewegenden Worte danken. Er zählt zu den bedeutendsten europäischen Politikern unserer Zeit. In den letzten 20 Jahren hat er – mitunter gegen erhebliche Widerstände – unablässig daran gearbeitet, die europäische Integration voranzutreiben.

Unermüdlich führt er uns die Vorteile des europäischen Projekts vor Augen. Für seinen tief verankerten Anspruch „Europa weiterzudenken“ wurde ihm im Mai dieses Jahres der renommierte Karlspreis verliehen. Wir können uns sehr glücklich schätzen, dass Persönlichkeiten wie Wolfgang Schäuble heute die Politik mitbestimmen.

Ich danke dem Potsdamer Oberbürgermeister, Herrn Jakobs, und Herrn van Dülmen vom M100 Sanssouci Colloquium für die freundlichen Worte und die herzliche Gastfreundschaft; mein Dank geht auch an den gesamten M100-Beirat für das mir entgegengebrachte Vertrauen. Herrn Achleitner und Herrn di Montezemolo möchte ich für ihre Worte der Unterstützung danken. Ihnen allen herzlichen Dank!

Bekanntermaßen ist der Verlauf der europäischen Integration derzeit nicht einfach, und die Weltwirtschaft steht vor ernstzunehmenden Herausforderungen. Anders als einige Beobachter uns glauben machen wollen, sind diese Herausforderungen jedoch nicht allein in Europa entstanden. Aber möglicherweise sind die Auswirkungen hier derzeit deutlicher zu spüren als andernorts. Die Gründe hierfür sind komplex, doch Eines ist klar: der ursprüngliche institutionelle Rahmen des Eurogebiets ist den Erwartungen nicht gerecht geworden.

Im Euroraum haben wir eine einheitliche Geldpolitik, unsere Wirtschafts- und Finanzpolitiken werden hingegen nur lose koordiniert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Euroraum eine Union von Nationalstaaten ist, die ausgeprägte nationale Traditionen und Präferenzen haben. Der Konsens zur Schaffung einer gemeinsamen Währung war damals vorhanden, die Wirtschafts- und Finanzpolitik wurde allerdings weiterhin größtenteils auf nationaler Ebene organisiert.

Die globale Krise hat die Schwachstellen dieser Regelung offenbart. Die lockere Koordination der Politiken gewährleistet weder Stabilität noch erleichtert sie ein effektives Krisenmanagement. Der institutionelle Rahmen des Eurogebiets muss daher überprüft werden, um der WWU eine solidere Basis zu geben.

Aber wie gelangen wir dorthin? Hier lassen sich zwei Wege einschlagen. Eine Möglichkeit wäre es, „zurück an den Anfang“ zu gehen und den ursprünglichen Rahmen umzugestalten, damit dieser besser funktioniert. Die zweite Option wäre die Erarbeitung einer neuen Architektur, welche die Lehren der Krise angemessen widerspiegelt.

Der erste Weg ist meiner Meinung nach nicht gangbar. Es hat sich gezeigt, dass die Verflechtungen zwischen den Euro-Ländern zu ausgeprägt sind, als dass die Wirtschafts- und Finanzpolitiken ausschließlich Verantwortung der einzelnen Staaten sein können. Wir müssen Wege finden, um sicherzustellen, dass nationale Entscheidungen nicht anderen Mitgliedern der Währungsunion schaden. Für den Krisenfall sollten effektive Mechanismen zum Krisenmanagement bereitstehen. Gegebenenfalls bedeutet dies, über eine bloße Koordination hinauszugehen, da es sich um eine Angelegenheit europäischer Innenpolitik handelt.

Auch war zu beobachten, dass zur Gewährleistung von Stabilität gemeinsame Einrichtungen erforderlich sind, die auf Ereignisse reagieren können. Der Euro ist weltweit die zweitwichtigste Währung. Sein Anteil an den globalen Devisenreserven beträgt 25 %. An den internationalen Devisenmärkten werden täglich 1,5 Billionen Euro gehandelt. Und Tag für Tag verwenden 330 Millionen Bürgerinnen und Bürger im Euroraum die gemeinsame Währung. Eine Währung, die für das Leben so vieler Menschen von zentraler Bedeutung ist, bedarf einer effektiven Entscheidungsfindung.

Die zweite Option, die Schaffung einer neuen Architektur, ist daher der einzige Weg in Richtung Zukunft. Derzeit besteht die zentrale Herausforderung darin, den europäischen Bürgerinnen und Bürgern eine solche Vision, eine neue Architektur, aufzuzeigen. Genau darum geht es ja auch bei dieser Konferenz.

Zusammen mit den Präsidenten des Europäischen Rates, der Europäischen Kommission und der Eurogruppe wurde ich beauftragt, eine solche Vision für das kommende Jahrzehnt auszuarbeiten. Dabei sind wir so pragmatisch wie möglich vorgegangen, um festzulegen, welche Mindestanforderungen erfüllt sein müssen, damit der Euro sein gesamtes Potenzial ausschöpfen kann. Unsere Schlussfolgerungen sind sowohl realistisch als auch erreichbar.

Die Mitgliedstaaten müssen ihre Hoheitsrechte in ausgewählten Politikbereichen stärker bündeln. Dies hat uns die Krise ganz eindeutig gezeigt. Das heißt jedoch nicht, dass wir alle Befugnisse an Brüssel abtreten müssen. Hoheitsrechte werden nur in den Bereichen gebündelt, in denen dies für das Funktionieren einer stabilen und prosperierenden Währungsunion entscheidend ist. Dieser Schritt wird mit umfassender demokratischer Teilhabe und Legitimierung einhergehen.

Unsere Vision für die WWU basiert auf vier Säulen – Fiskalunion, Finanzunion, Wirtschaftsunion und politische Union. Die Fortschritte sollten in allen vier Bereichen gleichzeitig erfolgen. Die ersten drei Säulen werden dazu beitragen, die Fiskal-, Finanz- und Wirtschaftspolitiken auf tragfähige Art und Weise zu steuern. Dies wird auch dazu beitragen, dass Institutionen geschaffen werden, die dem Grad der monetären Integration im Eurogebiet entsprechen.

In meinem heutigen Vortrag möchte ich mich kurz der vierten Säule, der politischen Union, zuwenden. Diese Säule ist von zentraler Bedeutung, um die Bürgerinnen und Bürger des Eurogebiets stärker zu beteiligen und die anderen drei Säulen zu legitimieren.

Einige Beobachter sind der Ansicht, dass die politische Union als Erstes geschaffen werden muss, da die anderen drei Pfeiler eine gemeinsame Entscheidungsfindung voraussetzen. Diese Auffassung teile ich nicht. Die politische Integration kann und wird sich parallel zur wirtschaftlichen Integration entwickeln. In den letzten 60 Jahren der europäischen Integration ist die Abfolge immer so gewesen.

Beispielsweise hat sich die Öffentlichkeit im Zuge der Maßnahmen zur Bewältigung der Krise intensiver mit Themen des Eurogebiets befasst. Die Mitgliedstaaten mussten ihren Bürgern erklären, welche Pflichten sich aus der Mitgliedschaft im Euroraum ergeben, damit sie dem Europäischen Stabilitätsmechanismus Gelder zur Verfügung stellen konnten. Die nationalen Parlamente zeigen nun ein größeres Interesse an europäischen Angelegenheiten. Die engere wirtschaftliche Integration hat die demokratische Mitwirkung de facto gestärkt.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht weiter daran arbeiten sollten, die demokratische Mitwirkung in Europa weiter zu stärken. Im Ministerrat (in dem die Bürger von gewählten Ministern vertreten werden) und im Europäischen Parlament (dessen Mitglieder die Bürger direkt wählen) wird diese ja bereits praktiziert. Aber es muss noch mehr getan werden, damit die Stimmen der europäischen Bürger Gehör bekommen. Wir brauchen das, was in Deutschland als demokratische Teilhabe bezeichnet wird.

Und hier kommen Sie ins Spiel. Ich möchte Sie alle bitten – Journalisten und Verleger, aber auch Entscheidungsträger und Wissenschaftler –, zu der Entwicklung eines wahrhaft europäischen öffentlichen Raumes, zu einer europäischen Öffentlichkeit, beizutragen.

Die meisten von uns Europäern informieren sich vorwiegend über die nationalen Medien in den jeweiligen Landessprachen. Es ist nur natürlich, dass diese Medien unsere Sichtweise prägen: unsere Wahrnehmung von „Öffentlichkeit“ endet für gewöhnlich an den Landesgrenzen. Dies entspricht aber nicht mehr der Realität. Was in anderen Mitgliedsländern geschieht, geht uns alle etwas an. Probleme, die nicht an Grenzen haltmachen, machen es erforderlich, dass die Bürger einen Konsens bezüglich gemeinsamer Lösungen finden.

Auch hier zeigt die Krise ihre Wirkung. So setzen sich z. B. die Zeitungen in einigen Ländern nun intensiv mit den Sozialsystemen in anderen Ländern auseinander. Bürger verfolgen aufmerksam die Wahl von Ministern, deren Namen sie früher nicht einmal kannten.

Leider kann dies auch den unerwünschten Nebeneffekt haben, dass verstaubte nationale Stereotypen wieder ausgegraben werden. Positiv hingegen ist, dass die Bürger im Eurogebiet ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln und sich vermehrt für Entscheidungen in anderen Regionen interessieren.

Um diese Entwicklung zu fördern, wäre ein intensiverer Austausch von Medien zwischen den Ländern hilfreich. Und hier möchte ich Sie um Ihre Unterstützung bitten:

Könnten Sie beispielsweise eine Veröffentlichung von „importierten Seiten“ aus ausländischen Zeitungen in Erwägung ziehen? Bürger hätten dann die Möglichkeit, mehr darüber zu erfahren, wie Themen in anderen Ländern gesehen werden. Die interkulturelle Sensibilität würde erhöht werden, und europaweit könnten Debatten geführt werden, bei denen nicht nationale, sondern vielmehr politische Standpunkte vertreten werden. Eine solche Debatte würde im Zeitverlauf dazu beitragen, die europäische Entscheidungsfindung stärker zu legitimieren.

Der Vorschlag mit den „importierten Seiten“ ist nur eine Idee, ein Ausgangspunkt. Mit Ihrem Einsatz und Ihrer Kreativität können weitere solche Ideen geboren werden. Es ist ein Privileg, Teil des europäischen Projekts zu sein – dies gilt für Bürger und Journalisten gleichermaßen. Aber dieses Privileg ist für beide, Bürger und Journalisten, auch mit Pflichten verbunden.

Um die langfristige Vision des Eurogebiets zu unterstützen, ist eine wahrhaft europäische Öffentlichkeit letztlich unerlässlich. Die Bürger müssen grundsätzlich darin übereinstimmen, dass bestimmte Wirtschaftsmodelle innerhalb einer Währungsunion nicht länger möglich sind. Sie müssen begreifen, dass dem nationalen Ermessen bei wirtschaftlichen Maßnahmen, die den Euroraum als Ganzes betreffen, Grenzen gesetzt sind. Anders gesagt: wir brauchen einen neuen Konsens zur Wirtschaftspolitik, der dem europäischen Sozialmodell neuen Auftrieb verleiht und es fit für das 21. Jahrhundert macht.

Diese Debatte müssen wir schon heute in Gang bringen. Um die Krise dauerhaft hinter uns zu lassen, muss die WWU auf den Stabilitätspfad geführt werden. Dies wird den Bürgern und Finanzmärkten deutlich signalisieren, dass das Eurogebiet sich verpflichtet, den Kurs beizubehalten. Es wird alle Zweifel hinsichtlich der Zukunft des Euro ausräumen.

Der Optimismus, dass Europa diesen Weg beschreiten wird, ist durchaus begründet. In den vorangegangenen Jahrzehnten sind wir immer weiter vorangeschritten in Richtung eines stärkeren und enger vereinten Europas. Waren wir mit Herausforderungen konfrontiert, so haben wir stets Lösungen gefunden. Es hat sich gezeigt, dass diejenigen, die das Schlimmste vorhergesagt hatten, sich geirrt haben.

Darüber hinaus setzen die benötigten Lösungen weder extreme Ansätze noch Unmögliches voraus. Sie erfordern einen strukturierten und erreichbaren Pfad hin zur Vollendung der WWU. Dies liegt heute voll und ganz im Bereich des Machbaren.

Ich bin zuversichtlich, dass ich eines Tages sans souci an diesen wunderschönen, historischen Ort zurückkehren werde.

Bis dahin bin ich Ihnen für Ihre Unterstützung sehr verbunden.

Herzlichen Dank nochmals für diese Auszeichnung und Ihre freundlichen Worte.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Mario-Draghi