Keynote: Gordon Bajnai (Patriotism and Progress Foundation; ehemaliger Ministerpräsident, Ungarn)
Moderator: Dr. Leonard Novy (Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, Berlin)

In seiner Eröffnungsrede „Europa Countdown“ hielt der österreichische Schriftsteller und Essayist Robert Menasse ein eindringliches Plädoyer für mehr Europa. Kernthese der Rede ist, dass die europäische Krise durch eine post-nationale Demokratie überwunden werden könne, dass es auf Dauer kein supranationales Europa auf der Basis nationaler Demokratien aus dem 19. Jahrhundert geben könne, sondern die Lösung in der Entwicklung einer supranationalen Demokratie liege.


Der ehemalige ungarische Ministerpräsident Gordon Bajnai bemängelte in seiner darauf folgenden Keynote „The Crisis of Crisis Management“ das mangelnde Krisenmanagement der EU: „Die nächste Krise wird eine Krise der demokratischen Legitimität“. Politiker müssten nicht nur die Finanzkrise bewältigen, sondern stünden vor zahlreichen weiteren Herausforderungen. Beispiele seien die schrumpfende Wirtschaft als Folge der Globalisierung, die rückwärtsgewandte soziale Politik („Revolutionen werden nicht von denjenigen angezettelt, die arm sind, sondern von denen, die enttäuscht sind“), eine immer älter werdende Bevölkerung, die Erstarkung berühmter „Ismen“ wie Nationalismus oder Populismus und das globale Ungleichgewicht als Rache der Globalisierung. Gerade habe man in Europa versucht, mit einer Erhöhung der Ausgaben Herr der Finanzkrise zu werden. Doch kaum sei diese Krise überwunden, müsse Europa sich der Frage stellen, wie der riesige Schuldenberg abzubauen sei, so Bajnai. Sparprogramme und die Umsetzung von Reformen hieße in der Praxis nichts anderes, als von den Wählern mehr Geld zu verlangen und durch Reformen in ihr alltägliches Leben einzugreifen. Die unangenehmen Veränderungen seien für jeden spürbar. Bajnai malte als Konsequenz ein düsteres Bild: politische Instabilität und der Aufstieg radikaler Parteien. Eigentlich sei klar, was man als Politiker in Europa zu tun habe, sagte er und zitierte den Vorsitzenden der Eurogruppe Jean-Claude Juncker: „Wir wissen alle, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir danach wiedergewählt werden“.


So wie Menasse mehr europäische Integration gefordert hatte, sprach sich der Gründer der Patriotism and Progress Foundation für mehr europäische Solidarität aus. „Alle“ seien für die Krise verantwortlich, und so sollten auch „alle“ ihren fairen Anteil zu ihrer Überwindung zahlen, forderte er. Schließlich gebe es nicht „den“ einen Sündenbock der Finanzkrise: „Jeder soll zuerst einmal selbst in den Spiegel schauen, bevor er jemand anderen anklagt, schuld an der Krise zu sein.“ Gleichzeitig rief er dazu auf, nicht über das gesunde Maß hinaus Solidarität zu verlangen. Man könne von keinem Land erwarten, dass es aus europäischer Brüderlichkeit einen Blankoscheck unterschreibe. Auch gab Bajnai zu Bedenken, keiner könne von den Griechen erwarten, dass sie – realistisch gesehen – alle Schulden zurückzahlen. Dafür würden ihre finanziellen Mittel nicht ausreichen. Stattdessen schlug er vor, die Schulden zu halbieren, um den Griechen ein „Licht am Ende des Tunnels“ zu zeigen.

Mit seinem Appell wandte er sich auch an europäische Politiker. Es sei ihre Aufgabe, ihren Wählern offen und ehrlich zu erklären, welche möglichen Folgen ein Zusammenbruch der EU hätte. Nur wenn die Menschen wirklich begreifen würden, welche Konsequenzen ein Scheitern der EU tatsächlich nach sich ziehen würde, nur dann bestünde die Hoffnung, dass die europäische Idee genügend Unterstützung aus der Bevölkerung erfahre. Europa müsse einen Weg finden aus dem „Tsunami der Globalisierung“ und sein einmaliges Erbe bewahren und entwickeln. Die Menschen müssen ertragen, dass notwendige Maßnahmen wie schnellstmögliche strukturelle Reformen umgesetzt werden müssen; es müsse soziale Stabilität erreicht werden, die keine Kehrtwende in der Gesellschaft erlaubt, und Politiker müssen ehrlich zu den Menschen sein. Europa müsse Institutionen schaffen, die imstande seien, langfristig zu operieren und Kontinuität zu bewahren, anstatt in Vierjahreszyklen zu arbeiten.

In der anschließenden Diskussion forderte der Ungar eine langfristig angelegte Politik: „Viele der Projekte lassen sich nicht in einen Vierjahres-Zyklus pressen“. Regierungsstrukturen müssten angesichts der Wechsel durch Wahlen vor allem Kontinuität gewährleisten. Bezugnehmend auf Menasses Forderung, den Europäischen Rat abzuschaffen, vertritt Bajnai eine gemäßigtere Position: „Der Europäische Rat nimmt heute die Funktion einer Ersten Kammer des Parlaments wahr“. Das Europäische Parlament sehe er wie eine Zweite Kammer. Er sprach sich daher für eine Balance der europäischen Institutionen aus, anstatt den Europäischen Rat abzuschaffen: „Ich plädiere für eine gestärkte europäische Regierung mit einem langfristig angelegten Mechanismus, der Kontinuität in den wichtigsten Themen gewährleistet, ebenso wie direkte demokratische Legitimität, um die Regierung zu kontrollieren“.

Robert Menasse stellte in der Diskussion klar, dass er mit seiner Forderung nach „mehr Europa“ nicht missverstanden werden wolle. Gemeint sei eben nicht, dass es eine Art europäische „Vereinigte Staaten von Amerika“ gebe. Denn die USA seien mit dem klaren Ziel der Nationalbildung entstanden. In Europa sei genau das Gegenteil erforderlich, betonte Menasse. Er plädiere für ein ganz neues Europa, ein post-nationales Europa, das nicht als ein großer nationaler Staat existiere, sondern als Assoziation freier Regionen. Ob das überhaupt realistisch sei, wurde er vom Publikum gefragt. Schließlich habe man es während der Finanzkrise nicht einmal geschafft, eine paneuropäische Debatte zu führen, so die kritische Anmerkung von Mathew Kaminski vom Wall Street Journal in New York, wie er sich angesichts der Sprachenvielfalt denn ein supranationales Europa vorstelle. Menasse stellte klar, dass eine einzige gemeinsame Sprache zu fordern eine klare nationalistische Forderung sei: „Das ist genau das, was wir nicht wollen!“ Ganz abgesehen davon gebe es auch viele Staaten, die mehrere offizielle Sprachen führten, etwa die Schweiz. Abschließend gab Menasse zu bedenken, dass viele Europäer eine eher regionale als nationale Identität verspüren würden. Auch die Verbindung und Abhängigkeit zwischen Politik, Unternehmern und den Medien müsse sich ändern, so der Hinweis von Mary Dejevsky (The Independet, GB), um ein neues Europa zu kreieren.

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