Der Teebeutel und die europäische Ordnung

von Prof. Dr. Andreas Rödder

Als der Kalte Krieg zu Ende ging, musste in Europa die dritte Nachkriegsordnung des 20. Jahrhunderts errichtet werden. Sie löste die offenen Fragen der zweiten von 1945: Deutschland wurde wiedervereinigt, die baltischen Staaten gewannen ihre staatliche Souveränität und die Staaten des Warschauer Pakts ihre politische Unabhängigkeit zurück und die polnischen Grenzen wurden bestätigt. Dafür waren es die Fragen der ersten europäischen Nachkriegsordnung nach 1918, die sich erneut stellten: neu gegründete Demokratien zu stabilisieren, lebensfähige Ökonomien zu entwickeln und ethnisch-nationale Konflikte zu vermeiden. Wie groß diese Gefahren waren, offenbarte sich in den 1990er Jahren in aller Brutalität auf dem Balkan – oder durch einen Blick in die Geschichte: Ostmitteleuropa war der Raum, in dem nach 1918 die „shatter zones“ instabiler Staatlichkeit entstanden waren und der sich schließlich in jene „bloodlands“ verwandelt hatte, in denen die Gewaltausbrüche des 20. Jahrhunderts am schlimmsten wüteten.
Ostmitteleuropa zu stabilisieren und zu verhindern, was im früheren Jugoslawien oder 20 Jahre später in der Ukraine geschah, war die große Herausforderung und zugleich die eigentliche europäische Erfolgsgeschichte nach 1990. Sie hatte freilich eine zweifache Kehrseite: sie galt nicht für die Ukraine und Georgien, und sie belastete das Verhältnis des Westens zu Russland, das sich, so Putin, isoliert und vom Westen bedrängt fühlt.

Zweifellos wurden nach 1990 gegenüber Russland Fehler gemacht – der NATO-Russland-Rat zum Beispiel war immer eine 27 zu 1-Veranstaltung. Aber die Probleme lagen tiefer: in grundsätzlich entgegengesetzten Interessen der ostmitteleuropäischen Staaten, nämlich Sicherheit vor Russland, und russischen Großmachtinteressen. Und diese Spannung ließ sich nicht einfach überbrücken. Ein westliches Versprechen an Russland, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, wie manchmal gesagt wird, wäre Russland entgegen gekommen – aber es hätte über die Köpfe der ostmitteleuropäischen Staaten hinweg gehandelt und ihr Schutzbedürfnis ignoriert.

Dieses Problem ist ein Musterbeispiel dafür, dass es in der Geschichte oftmals keine eindeutigen Lösungen gibt. Dasselbe gilt in der gegenwärtigen Krise um Flüchtlinge und Asylbewerber: die deutsche „Willkommenskultur“ ist eine große humanitäre Leistung, und sie droht zugleich eine Sogwirkung zu erzeugen, die zu einem umso größeren Problem führt. Es gibt kein einfaches „falsch“ und „richtig“.

Diese Einsicht geht in den Massenmedien allerdings häufig unter. Während Journalisten in vielen Ländern froh sind, wenn sie überhaupt frei arbeiten können, leiden die Debatten in den westlichen Ländern unter einer doppelten Verkürzung:  erstens werden Aufmerksamkeitsspannen immer kürzer, und die Aufmerksamkeit für ein Problem verdrängt das andere, ohne dass es gelöst wäre – es verschwindet bloß aus dem Blickfeld. Zweitens suggeriert eine emotionalisierte und moralisierende Berichterstattung, in der sich Analyse und Kommentar vermischen, „falsch“ und „richtig“ in einer Eindeutigkeit, die an der grundlegenden Komplexität der Situation vorbeigeht, in der es eben kein einfaches „falsch“ und „richtig“ gibt.

Eine freie Presse ist kein Geschenk des Himmels und muss ständig aufs Neue verteidigt werden. Zugleich tragen auch die freien Massenmedien Verantwortung für die öffentliche Debatte in einer Demokratie. Ihre Aufgabe liegt darin, Orientierung im unüberschaubaren Netz der Informationen zu bieten und als Filter zu wirken, damit Meinungsbildung auch in Zukunft auf Tatsachen und Hintergrundinformation basiert. Zu dieser Verantwortung gehört es ganz grundsätzlich, Offenheit für Komplexität, Widersprüchlichkeit und unterschiedliche Perspektiven zu vermitteln, statt allzu einfache vermeintliche Eindeutigkeiten zu präsentieren.

Dies ist, wenn es sie gibt, die Lehre der Geschichte: was auch immer Menschen tun, es schafft unvorhergesehene Folgen – Marktliberalisierung führt zu Staatshaftung, Gleichstellung erzeugt neue Ungleichheit, und Pluralisierung ruft neuen Hunger nach Ganzheit hervor. Neue Probleme lösen alte nicht ab, sondern sie kommen hinzu und verbinden sich miteinander, und daher erscheint die Welt immer komplexer. Wieder und wieder gibt es keine eindeutigen und einfachen Lösungen. Die Intervention in Libyen 2011 hat einen failed state, ein Einfallstor für den Islamischen Staat hinterlassen. Was aber, wäre die Intervention ausgeblieben? Hätte Gaddafi ein Massaker an der eigenen Bevölkerung verübt, würden wir heute vom dritten großen humanitären Versagen nach Ruanda und Srebrenica sprechen, das nie wieder hätte passieren dürfen.
Abermals: all diese Erfahrungen sollten Offenheit für Komplexität und Widersprüchlichkeit anstelle unhinterfragter, selbstgewisser Eindeutigkeit lehren. Ralf Dahrendorf sagte 1974, dass eine gute Idee, ins Extrem getrieben, das Gegenteil von dem erzeugt, was sie bewirken sollte. In anderen Worten: eine Idee wird immer dann schädlich und gefährlich, wenn sie sich von den Realitäten löst. Das gilt für die großen Ideologien und Fundamentalismen, es gilt aber auch für die Europäische Währungsunion und oder die Verabsolutierung des Marktprinzips, für gender mainstreaming, die Rechtschreibreform und die Flüchtlingskrise.
Das 20. Jahrhundert zeigt uns: die Ära der großen Entwürfe ist vorüber. Weder Keynesianismus noch Neoliberalismus waren in der Lage, die Kräfte der Wirtschaft zu beherrschen. Wir sind nicht in der Lage, die Geschichte zu regieren. Es ist, wie Vaclav Havel in den 1990er Jahren ahnte: wir sind „allein im All“.

Aber das ist keine schlechte Nachricht. Denn geschlossene Systeme neigen dazu, Alternativen auszuschließen und Offenheit zu verhindern – Offenheit, wie sie im schönen anglo-indischen Begriff der serendipity zum Ausdruck kommt. Ein altes persisches Märchen erzählt die Geschichte der drei Prinzen von Serendip, die auf ihrer Reise allerhand nützliche Entdeckungen machen, mit denen sie gar nicht gerechnet hatten, und die sie gerade deshalb machen, weil sie offen dafür waren. So gelangte Kolumbus nach Amerika, so wurde der Teebeutel erfunden, und so entdeckte Fleming das Penicillin. Diese Offenheit für unerwartete Möglichkeiten, aber auch für unvorhergesehene Gefahren ist nicht die schlechteste roadmap für die ungewisse Reise durch das 21. Jahrhundert.

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