Die Konferenz startete um 9.30 Uhr mit der Präsentation des M100 Young European Journalists Workshop, in dem in den Tagen zuvor 25 Nachwuchsjournalisten aus Europa und den Ländern der Östlichen Partnerschaft Ziele, Techniken und spezifische Herausforderungen des investigativen Journalismus näher gebracht wurden.

Die jungen Journalisten begleiteten das Colloquium den ganzen Tag und dokumentierten die Veranstaltung ausführlich auf einem Liveblog, in dem Fotos, Tweets und Statements der Teilnehmer veröffentlicht wurden. Der Liveblog  war sowohl auf großen Bildschirme in der Orangerie sichtbar, als auch direkt auf der M100-Website, wodurch die Konferenz auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.

Danach leitete Prof. Dr. Dan Diner von der Hebräischen Universität Jerusalem die Konferenz mit seiner Eröffnungsrede ein. Darin sprach er über das Gespenst der Geopolitik, das in Europa herumgehe. „Unmerklich, gleichsam schleichend, ergreift es Besitz von Sprache und Begriff“, so Diner. Diese semantische Infiltration gehe mit der Absicht einher, Wirklichkeit politisch zu gestalten. „Zwei Tendenzen greifen ineinander: Die mit dem Ende des Kalten Krieges gleichsam naturwüchsige Wiederkehr der Bedeutung des Raums bei gleichzeitigem Abklingen der zuvor maßgeblich gewesenen Kategorien der Zeit; und die einer solchen Verwandlung erwachsende Entschlossenheit Russlands, sich jener Tendenz zum Zwecke der eigenen Machtentfaltung zu bedienen.“

In der darauf folgenden 1. Session, „Alle für einen und einer für alle – Europa zwischen autokratischen Herausforderungen und Desintegration“ moderiert von Dr. Leonard Novy, Ko-Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik in Köln, ging es um europäische Innenpolitik. Novy begann mit der Frage, wie die EU heute mit der demokratischen Krise umgehen und reformiert werden könne. All die Herausforderungen der letzten Monate – Desintegration, Populismus, Brexit, die Flüchtlingskrise, das Aufkommen nationaler und populistischer Machtkämpfe – habe sich zu einem Krisensturm addiert.
David Charter, Berlin-Korrespondent der britischen „The Times“, erklärte, dass die EU Großbritannien nie wirklich verstanden habe. Hätte es mehr Teilnahme gegeben, wie zum Beispiel ein Referendum, ob die Türkei EU-fähig sei, wäre das Ergebnis der Brexit-Abstimmung vielleicht ein anderes gewesen. „Aber seien wir ehrlich“, sagte er dann, „es ging vor allem um die Immigration.“
Für die Journalistin und Filmemacherin Annalisa Piras, die 2014 mit „The Great European Disaster“ einen Dokumentarfilm über die EU-Krise gemacht hat und damit u.a. den CIVIS Medienpreis gewonnen hat, haben die Medien eine besondere Verantwortung und großen Einfluss, sowohl auf Euroskeptiker, als auch auf Populisten. Ihrer Meinung nach sollten die Medien eine größere erzieherische Rolle in der öffentlichen Meinung spielen.
Nataliya Gumenyuk, Leiterin des unabhängigen ukrainischen Internet-TV-Senders Hromadske.ua und der englischsprachigen Multimedia-Platform Hromadske International in Kiew, sagte, sie sei davon ausgegangen, dass Leute, die sich über das BBC-Programm informieren, besser gebildet seien, nicht Politikern glauben, die lügen und mit ihrer Wahlstimme verantwortlicher umgehen. Der Brexit habe ihr und ihrem Team jedoch gezeigt: „Gute Medien und eine ordentliche Ausbildung funktionieren auch nicht gut", seien also keine Garantie für durchdachte Wahlentscheidungen.
Dr. Asiem El Difraoui, Ko-Gründer der in Paris und Berlin ansässigen Candid Foundation, kritisierte, dass die Medien versäumt haben, den Menschen die Relevanz der EU zu erklären und das Erreichte zu kommunizieren. Zudem warnte er davor, dass Frankreich als nächstes großes Land die EU verlassen könne. In dem Ort, in dem er lebe, seien bereits 45 % der Leute gegen die EU.
Für BBC-Global-News-Chef Jim Egan und Anne McElvoy, leitende Redakteurin beim britischen „Economist“, ist die Zeit gekommen, um Strategien für die Zeit jenseits der EU zu entwickeln und den Brexit-Blues zu überwinden. Bezüglich der Gründe, die zum Brexit geführt haben, empfiehlt sie, dass die EU sich mit diesen Themen beschäftigen solle, um von ihnen zu lernen, sie solle ihren Mitgliedstaaten mehr eigene Kontrollmöglichkeiten einräumen und dadurch als System flexibler  werden.
Prof. Dr. Ulrike Guérot wünschte sich, dass das britische Parlament „die Würde" habe, aufzustehen und zu sagen: Das war kein bindendes Referendum, wir Eliten haben uns dumm benommen und machen das jetzt wieder rückgängig. Demokratie sei nicht die Demokratie der Straße, Demokratie sei parlamentarisch und benötige eine 2/3-Mehrheit für eine Verfassungsänderung. Der Brexit sei nicht nur für Großbritannien verhängnisvoll, sondern auch für die EU. Das Europa-Papier des Brüsseler Think Tanks Bruegel - in ihren Augen ein „Disaster" - sei kein Papier für die Bürger, sondern für die Märkte, das sich nur an den Interessen von Banken, Kapital und der Industrie orientiere. Nach Die seit fünf Jahren anhaltenden Krise habe jedoch gelehrt, dass die Bürger nicht weiter betrogen, sondern an erster Stelle kommen sollten. „Wir brauchen jetzt eine überzeugende Message an die Bevölkerung und nicht an die Märkte: Die Bewegungs- und Reisefreiheit von Personen zu erhalten. Dass EU-Bürger frei innerhalb Europas reisen können und gleich sind vor dem Gesetz.“ Das sei eine große Herausforderung für die EU des 21. Jahrhunderts.
Dr. Bo Lidegaard, Dänischer Politiker, Historiker, Autor und ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung „Politiken“ erinnerte mit Blick auf den am nächsten Tag stattfindenden EU-Gipfel in Bratislava an den Begriff der Sicherheit. Es sei eine Herausforderung, dass die EU-Bürger die EU dazu bringen müssten, im Sinne von Prof. Diners Eröffnungsrede geopolitische Sicherheit zurückzuerlangen. Soziale Sicherheit sei äußerst wichtig. Versprechen, dass Globalisierung, freier Handel und Bewegungsfreiheit Nutzen für alle bringen würde, knüpfte er an Ulrike Guérot an, sei nicht erfüllt worden. Für mindestens die Hälfte der Bevölkerung habe die Globalisierung nicht zu einer wirtschaftlichen Verbesserung oder sozialen Arbeitsbedingungen geführt.
Gabor Steingart, Herausgeber der deutschen Tageszeitung „Handelsblatt“ und Autor des gerade erschienenen Buches „Weltbeben“ (Knaus) sagte, man sei hier heute nicht zusammengekommen, um nur zu erklären, sondern vor allem auch, um zuzuhören und zu lernen. „Wir befinden uns in einer zeitlichen und historischen Periode in Europa, in der wir von unseren Lesern, Zuhören, Zuschauern, von den Bloggern und den jungen Menschen lernen müssen. Sie haben die richtigen Fragen über Europa gestellt, warum sollten sie einem System folgen, das so weit von der Demokratie entfernt ist?“ Europa sei kein demokratisches System, man könne es nicht wählen und man könne es nicht wieder loswerden (abwählen). Wer sind die führenden Köpfe? Sie sind weder von den Menschen gewählt, noch von irgendeinem hier am Tisch.“ Zurzeit sei man vorwiegend mit dem Brexit und der Flüchtlingskrise beschäftigt, man dürfe aber nicht vergessen, dass das Finanzsystem „auf Sand gebaut“ sei und dass die meisten Versprechen nur auf dem Papier bestehen. Auch sei ein System nicht glaubwürdig, das nicht in der Lage sei, seine Grenzen zu schützen. Die Politiker sollten mehr den Leuten zuhören und nicht immer nur über Populismus reden.

Der Chefredakteur des österreichischen Magazins „Profil“, Dr. Christian Rainer, der Gründer der Plattform „Chinaandgreece.com, Dr. George Tzogopoulos, sowie „Bild“-Chefredakteurin Tanit Koch reflektierten über die Gründe des Brexit, über die Flüchtlingskrise und ihre Konsequenzen und brachten ihre persönlichen Perspektiven aus der Sicht ihres jeweiligen Landes ein. Tanit Koch befürchtet, dass Brüssel seine vielen Versprechen nicht halten kann und dass Abhängigkeitsverhältnisse nicht länger zu staatlich verordneter Integration führen, sondern stattdessen zu Desintegration. Sie ist, was die Zukunft der EU betrifft, allerdings prinzipiell zuversichtlich, da sich die EU in Krisenzeiten bisher immer weiterentwickelt hat.
Dr. Sylke Tempel, Chefredakteurin von „Internationale Politik“ und dem „Berlin Policy Journal“, sagte, sie habe den Eindruck, dass die Medien sehr schlecht im Kommunizieren der wenigen guten Dinge seien, dafür umso besser im Kommunizieren von schlechten Dingen. „Wir können unsere eigene Bevölkerung nicht mehr lesen“, sagte sie, „und wir sind schon gar nicht imstande, die Bevölkerung in anderen Ländern lesen.“ Nur durch das Lesen von z.B. „La Libération“ würde man nicht die Franzosen in ihrer Gesamtheit verstehen. Sie thematisierte die Notwendigkeit einer transnationalen Form des Journalismus innerhalb Europas, um einen Sinn für eine gemeinsame Demokratie zu ermöglichen.
Xenia Kounalaki, Auslandschefin der griechischen Tageszeitung „Kathimerini daily", kann ihren Lesern nur schwer positive Aspekte der EU vermitteln. Die meisten hätten nicht die finanziellen Mittel, sich frei durch die EU zu bewegen, von europäischer Solidarität sei in Griechenland nichts angekommen. Die Jugendarbeitslosigkeit liege bei über 50 %, und die EU werde durch das Gesicht der Troika repräsentiert, das Sparßmaßnahmen diktiert, von denen nicht mal der IWF glaubt, dass sie funktionieren. Hinzu komme die Flüchtlingskrise, die Griechenland erneut bedroht, falls der Deal mit der Türkei nicht klappt. Wie solle ein Land, das selbst so große soziale Probleme hat, all die Flüchtlinge integrieren. Man würde auch in Griechenland verfolgen, dass mit der Flüchtlingskrise auch in Deutschland die AfD jeden Tag mehr Zulauf bekomme, und all diese Faktoren würden die EU nicht besonders sexy machen,
In der Ukraine hingegen, sagte Yevhen Hlibovitsky, Gründer des unabhängigen Think Tanks „Pro.mova“ in Kiew, würden „eine Menge von Errungenschaften und Vorteilen wie Sicherheit und Meinungsfreiheit als selbstverständlich angesehen werden". Diese Dinge seien aber nicht selbstverständlich, man müsse ständig an ihnen arbeiten. Und sein Eindruck sei, dass in Bezug auf die Ukraine nicht Desintegration das größte Problem sei, sondern dass die EU ihre Ziele, ihren eigenen Zweck aus den Augen verliert. Das sei gefährlich, denn es seien genug andere da - wie Russland -, die bereit sind, das Ruder zu übernehmen und die Grundfeste der EU zu erschüttern. Man müsse politisch inkorrekte Fragen stellen und es müsse auch erlaubt sein sich zu fragen, ob das nicht alles furchtbar falsch laufe.

Die Diskussion hat gezeigt, dass das Unbehagen gegenüber der EU in allen Mitgliedstaaten sehr hoch ist und die Besorgnis über die weitere Entwicklung sehr groß. Die Teilnehmer aus der Ukraine sehen hingegen eher Vorteile in der EU. Schon die Nähe und die Orientierung zu ihr habe der Bevölkerung Reise- und  Meinungsfreiheit gebracht. Wäre die Ukraine EU-Mitglied, würde sie sich jetzt nicht in diesem „Schlamassel" mit Russland (Gumenyuk) befinden. Die Rolle und Verantwortung der Medien wurde bereits in dieser ersten Session immer wieder thematisiert und betont: nicht nur die EU-Politiker seien das Problem und kommunizieren falsch (abgesehen vom undemokratischen Konstrukt der EU), auch die Medien sind offenbar nicht in der Lage, die Vorteile der EU herauszustellen und den Bevölkerungen zu vermitteln. Ergebnis ist eine EU-Ermüdung, das Gefühl von zu viel Europa statt zu wenig, das Gefühl betrogen und ausgenutzt zu werden, von Unsolidarität und Verlogenheit der politisch Verantwortlichen, was das Aufkommen rechter Parteien  in ganz Europa begünstigt. Hinzu kommt der wachsende Vertrauensverlust in die traditionellen Medien - auch bei gut ausgebildeten und informierten Menschen - bei gleichzeitiger Hinwendung in soziale Medien als zentraler Informationsquelle, was die Verbreitung von Propaganda und Hetze begünstigt.

Hier geht es weiter zu Session II.

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