JOURNALISMUS ZWISCHEN POLITIK, PROPAGANDA UND GEFÄNGNIS IN DER UKRAINE

Stanislav Sokolov aus der Ukraine, 23, ist Nachrichtenredakteur und Kolumnist der Webseite Novoye Vremnya (nv.ua). Er beschäftigt sich mit den Themenbereichen Politik, Wirtschaft, IT und Wissenschaft.
 
Das erste Mal, dass ich mit Zensur konfrontiert wurde, war am Tag der Ukrainischen Revolution. Einige Tage zuvor kaufte ein Großindustrieller aus dem Umkreis des ehemaligen Präsidenten Victor Janukowitsch und seiner Familie die Website korrespondent.net, für die ich arbeitete. Die Nacht im November 2013, als die Menschen sich auf dem Maidan in Kiew versammelten, um zu protestieren, war auch die Nacht, als unsere Medienportal nicht länger frei war, um die Nachrichten zu publizieren, die es wollte. Ein Team von Zensoren verbannte alle Informationen rund um den Protest.
Am nächsten Tag kündigte ich.

Sofort danach heuerte ich bei einem Start-up an, das gerade eine neue Webseite gelauncht hatte und rund um die Uhr Nachrichten ohne Zensur von den Protesten auf dem Maidan zeigte. Die Klickzahlen der Webseite schossen von einigen hundert am Anfang in Millionenhöhe im Dezember. Zu der Zeit begann ich die Bedeutung des Journalismus für die Gesellschaft zu verstehen, besonders für eine, die sich wie in der Ukraine im Wandel hin zu einer neuen Demokratie befindet.

Nichtsdestotrotz konnte der Erfolg der Bewegung nicht gleich alle ukrainischen Probleme lösen wie eine magische Hand, und die Situation der Medien geriet vom Regen in die Traufe. Alte Entwicklungsproblematiken – Abhängigkeiten von Oligarchen, Regenbogenpresse, das Fällen von vorschnellen Urteilen und die Unfähigkeit, über den eigenen Horizont hinauszuschauen – wurden mit der russischen Charme-Offensive noch schlimmer. Wie der Krieg zeigt, sind Journalisten genauso empfänglich für propagandistische Hysterie und mythologisches Bewusstsein wie der normale Bürger.
Die Ukraine ist ein interessanter Fall von scheinbarer Pressefreiheit. Juristisch gesehen sind die Medien quasi frei, besonders im Vergleich zu den diktatorischen Gesetzen, die in den letzten Jahren des Janukowitsch-Regimes in Kraft traten.  Aber in den einflussreichen Massenmedien wie nationalen TV-Kanälen oder beliebten Webseiten kann man kaum professionellen Journalismus erkennen. Das Fernsehen ist abhängig von dem Willen seiner Eigentümer – Magnaten mit unterschiedlichen politischen Zielen und unklaren Kapitalquellen.

Die Revolution hat vielleicht den politischen Druck von der Tagesordnung genommen, aber die nachfolgende ökonomische Krise hat sie zurückgeholt,  nur in anderer Form. Aufgrund der Angst, den Job und das Einkommen zu verlieren, arbeiten die Leute immer noch für  Verlage und Medienanstalten, die dem auf der Flucht befindlichen Magnaten Serhiy Kurchenko (UMH) gehören, oder für das Kreml-treue „Vesti“  (ein tägliches Umsonst Nachrichtenblatt). Diese Gedanken zeigen ein interessantes Phänomen des ukrainischen Journalismus: Selbstzensur, die bereits 1990 aufkam, bekam unter dem Janukowitsch-Regime neuen Wind.  Sie ist auch der Grund dafür, dass Journalisten ihre Arbeit dem Gedanken unterordnen, dass  jemand Mächtiges nicht mag, was sie schreiben.

Der Fall des halbautoritären Regimes hat die Angst vor Gefängnisstrafen verringert. Trotzdem sind die wirklich gefährlichen Gefängnisse die in den Köpfen der Journalisten. Die revolutionären Ereignisse führten dazu, dass patriotische Gefühle hoch kommen, die eher patriotische Hysterie sind. Die Medien leiden ebenfalls an der Unfähigkeit, die professionelle Ethik von ihrer bürgerlichen zu trennen. Der Druck auf die Medien ist besonders in sozialen Netzwerken zu sehen. Die Formate, die kritische Kommentare erlauben,  pro-ukrainische Überschriften haben oder Platz für andere Sichtweisen lassen, werden ausgelacht, kritisiert und sogar beschimpft.
Die russische Charme-Offensive führt zum ständigen Verdacht, dass alles  dem Kreml oder seinen Handlangern zu verdanken ist. Dem Durchschnittsleser fehlt kritisches Denkvermögen, genauso wie dem Durchschnittsjournalisten.
Die ukrainischen Medien versagten während der ersten russischen Propaganda-Offensive auf ganzer Linie. Die westlichen Leser hatten keine anderen Sichtweisen als die von Moskau gefütterten News- Sturmtruppen.
Eine der wenigen Antworten war das StopFake Projekt (http://www.stopfake.org/en/about-us/), aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Meine Erfahrung im Journalismus lehrt mich, dass Leute oft faul und anfällig für schrille Überschriften sind. Knappe Zeit, schwierige Arbeitsbedingungen, schlechtes Management, das Fehlen von Erfahrung und Trägheit hindert Journalisten daran, sorgfältig Fakten zu  überprüfen und  tiefer nachzubohren.
Der Journalismus in der Ukraine verschmilzt mit Bürgerjournalismus – mit unscharfen Linien zwischen Fakten und Meinungen, tatsächlichen Ereignissen und ideellen Situationen.

Professionelle Redakteure versuchen, diese Trends zu bekämpfen, aber die Massenmedien nutzen diese Trends, um den Leser durch schrille Überschriften, die die Realität verzerren, aber „like-able“ und teilbar sind, zu manipulieren, denn Online-Medien brauchen hohe Klickzahlen, um Geld zu generieren.

Die Mauern des ukrainischen Polizeistaates sind gefallen, aber die mentalen Zäune bleiben die gleichen. Journalisten in der Ukraine müssen aufgeklärt werden, die Ketten vorangegangener Erfahrungen müssen zerschnitten und Scheuklappen abgesetzt werden. Die Medien haben die Möglichkeit, nun wirklich  die „vierte Gewalt“ zu werden, oder aber weiterhin versklavt zu sein. Wissen ist der Schlüssel zu dieser Macht – und im vorliegenden ukrainischen Fall bedeutet Wissen  auch Professionalismus, der erst noch erlangt werden muss.

 Stanislav sokolo